Die besten Gedichte von Joachim Stiller
Inhaltsverzeichnis
- 1 Die besten Gedichte von Joachim Stiller
- 1.1 Das erste Gedicht (Prolog)
- 1.2 Malermeister Klecksel (Sechszeiler)
- 1.3 Über den Wassern (Fünfzeiler)
- 1.4 Drei Hasen (Fünfzeiler)
- 1.5 Fels in der Brandung (Vierzeiler)
- 1.6 Genommen (Vierzeiler)
- 1.7 Zersprungen (Vierzeiler)
- 1.8 Soziales Zelt (Vierzeiler)
- 1.9 Liebe (Vierzeiler)
- 1.10 Selbssterkenntnis (Vierzeiler)
- 1.11 Die Rose (Vierzeiler)
- 1.12 Das letzte Gedicht (zum Abschluss)
- 1.13 Bücherehe (Epilog)
Die besten Gedichte von Joachim Stiller
Das erste Gedicht (Prolog)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Der Hörer liegt auf der Gabel Und ich sitze am Schreibtisch Und schreibe mein erstes Gedicht.
Ich schreibe für Wilfried, Für Karsten und Alvin, Ich schreibe für den Sozialismus, Ich schreibe für den Dritten Weg Und für Direkte Demokratie, Ich schreibe für das Internationale Kulturzentrum in Achberg, Ich schreibe für das sittliche Ideal, Für die Erleuchtung der Welt, Ich schriebe für die Freiheit, Für die Liebe und für den Frieden.
Ich schreibe gegen den Krieg, Gegen die Krankheiten dieser Welt, Gegen Wald- und Tiersterben, Ich schreibe gegen den Hunger, Und gegen die Einsamkeit, Gegen Kampfhunde und den Ganz alltäglichen Faschismus, Ich schreibe gegen die Werbung Und gegen den Fernsehterror. Ich schreibe mein erstes Gedicht. </poem>
Beschreibung des Gedichts
Dieses Gedicht aus einer frühen Schaffensperiode des Autors fällt etwa in die Zeit seiner Auseinandersetzung mit Gedichten von Ernst Jandl, Ulla Hahn und Robert Gernhardt.
Das Gedicht hat drei Strophen. Die Einleitungsstrophe mit dem Einleitungssatz umfasst drei Zeilen, die beiden Hauptstrophen sind mit elf, bzw. zehn Zeilen etwa gleich lang. Die Versenden sind reimlos, und so folgt das Gedicht keinem festen Schema; es schient völlig egal zu sein, wie lang die einzelnen Strophen sind, und der Autor hat eine seiner Ansicht nach ausgewogene Länge gewählt, weder zu kurz, noch zu lang. Das Gedicht ist einem durchgängigen Rhythmus verpflichtet, der aber bei der Vollständigkeit der Sätze auch nicht „zu“ lyrisch ist.
Das Gedicht ist ein Gedicht über das Dichten selber. Mit der literarischen Postmoderne, die sich bereits in den 60er Jahren in den USA andeutete, wurde das Thema oder die Aussage eines literarischen Werkes bedeutungslos. Wichtig war stattdessen das „Schreiben über das Schreiben“ – der Weg war gleichsam auch das Ziel. Man machte dem Leser klar, dass Schreiben etwas Künstliches, etwas Erdachtes war. Und so auch in diesem Gedicht. Das „lyrische Ich“ des Autors macht es bereist im Einleitungssatz der Einleitungsstrophe deutlich: Das lyrische Ich sitzt in aller Stille, also konzentriert, hinter dem Schreibtisch, und schreibt sein erstes Gedicht. Und nun kommt eben nicht das Gedicht, sondern eine zweistrophige Aufzählung, für wen oder was bzw. gegen wen oder was er denn das Gedicht schreibt, das wir wohl niemals selber zu Gesicht bekomme. Und das können wir auch nicht. Denn dieses Gedicht über das Schreiben des ersten Gedichts ist sich selbst genug, es genügt sich selbst, es ist bereits das endgültige Gedicht.
Der Schlusssatz am Ende der zweiten Hauptstrophe schließt dann das Gedicht ab: „Ich schreibe mein erstes Gedicht.“ Der Kreis hat sich Geschlossen, das Gedicht über das Schreiben ist fertig. Es ist fertiges Gedicht und politisches Statement zugleich.
Malermeister Klecksel (Sechszeiler)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Der Malermeister Klecksel, Der Rot und Grün verwechselt, Malte alle Blätter rot, Und die Blüten blühten grün. Ich drückte mal ein Auge zu, Und fand die Sache schön. </poem>
Über den Wassern (Fünfzeiler)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Des Menschen Seele gleichet dem Wasser: Hoch vom Himmel fällt es her, Und auf die Erde nieder; Zum Himmel steigt es jäh empor, Und es kehret wieder. </poem>
Beschreibung des Gedichts
Das Gedicht „Über den Wassern“ stammt ursprünglich von Goethe. Der Autor hat einfach die erste Strophe des Gedichts „Gesang der Geister über den Wassern“ für sich adaptiert, und in nicht ungekonnter Weise um- und weitergedichtet.
Das Gedicht hat fünf Zeilen in denen sich Jamben und Trochäen abwechseln, und im Einleitungssatz der ersten Zeile ist sogar ein Daktylos eingebaut. Der Einleitungssatz der ersten Zeile steht für sich; er bleibt reimlos. Der nun folgende Vierzeiler steht im Kreuzreim, wodurch der Spannungsbogen möglichst lange aufrecht erhalten wird. Am Ende hat sich der Kreis geschlossen und die Spannung löst sich auf. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch den Wechsel von männlichen und weiblichen Versendungen, wobei die männlichen die der dynamischen Bewegung sind („her“ und „empor“), während die weiblichen die Wiederkehr des geschlossenen Kreislaufs bezeichnen („nieder“ und „wider“). Es ist eine Spezialität des Autors, gerade auch mit dem Mittel dynamischer Vorsilben und Versendungen (bzw. –pausen) zu arbeiten und somit dem klassischen Schema von Jambus und Trochäus eine neue, höhere Form zu geben. Der Autor betont immer wieder, dass es ihm vor allem auch um das Sprachempfinden geht, das der Autor dann u.a. mit seinen spirituellen Wahrheiten verbindet.
Das ganze Gedicht ist ein Lehrgedicht. Es vermittelt uns eine tief empfundenen spirituelle Weisheit. So heißt es im Einleitungssatz der ersten Zeile, dass die Seele dem Wasser gleichet. Das ist an sich nichts neues, und sollte uns ein wohl vertrautes Bild sein. Allein es geht Goethe, und mit ihm dem Autor, um den ewigen Kreislauf der Natur. So hebt der nun folgende Vierzeiler, der diesen ewigen Zyklus beschriebt, mit betonter Silbe an: „Hoch vom Himmel fällt es her.“ Das Wasser fällt vom Himmel auf die Erde, und steigt dann wieder zum Himmel empor (Z.4) Am Ende wiederholt sich alles; das Wasser kehrt zurück zur Erde: „Und es kehret wieder.“ Beschrieben wird also ein ganz einfacher spiritueller Gedanke, der Gedanke von Geburt, Tod und Wiedergeburt, und so singt Goethe, und mit ihm der Autor, das Hohelied auf den Gedanken der Reinkarnation, der, so die Ansicht der Autoren, einer der glücklichsten ist, den ein Mensch haben kann.
Drei Hasen (Fünfzeiler)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Der Mond, der ist drei Hasen, Die flitzen auf dem Rasen, Und schlagen einen Purzelbaum, Um sich vergnüglich anzuschaun. Der Mond, der ist drei Hasen. </poem>
Fels in der Brandung (Vierzeiler)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Ich möcht' ein Fels in der Brandung sein, Die Wellen, sie peitschen gegen mich ein, Ich trotz' dem Wasser und auch dem Wind, Bis alle Wellen gebrochen sind. </poem>
Beschreibung des Gedichts
Das Gedicht, das vielleicht Stillers bestes ist, in welchem der Autor ein Fels in der Brandung sein möchte, der dem Wasser und dem Wind trotzt, ist ganz in einem „vollständigen vierfüßigen Jambus“ geschrieben (also ohne Endauslassungen oder -pausen). Das Besondere an diesem Gedicht ist nun, dass jede Zeile durch einen Trochäus unterbrochen ist. Dadurch entsteht ein geradezu einmaliger Rhythmus, der auf geniale Weise dem Rhythmus der Wellen gleicht, die gegen den Fels dieses Gedichtes einpeitschen.
Genommen (Vierzeiler)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Das Grün bricht aus den Zweigen, Ich will es nicht verschweigen, Der Frühling ist gekommen, Nun hab ich Dich genommen. </poem>
Zersprungen (Vierzeiler)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Die Tür ist aufgegangen, Ich wäre fast zersprungen, Vor leidig-losem Glück, Du kommst zu mir zurück. </poem>
Soziales Zelt (Vierzeiler)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Wir müssen die soziale Kälte, Im Lande überwinden, Wir müssen im sozialen Zelte, Uns bald zusammenfinden. </poem>
Liebe (Vierzeiler)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Trag Liebe tief im Herzen, Das Herz in dem Verstand, Dann hältst Du alle Zeiten, Die Welt in Deiner Hand. </poem>
Beschreibung des Gedichts
"Dieses Gedicht über die Liebe, die der Autor dem Herzen des Lesers anempfiehlt, ist ebenfalls ganz im vierfüßigen Jambus gehalten. Ich möchte nur auf zwei Details aufmerksam machen:
1. Jeder Vers besitzt eine Endpause, wobei sich einsilbige mit zweisilbigen Versendpausen abwechseln (ich habe sie einfach entweder durch ein Apostroph oder durch Gänsefüßchen gekennzeichnet).
2. Männliche und weibliche Versenden wechseln sich hier ab. Dabei ist es wichtig zu wissen, das ich, ganz unabhängig von der Silbenzahl, unter einem männlichen Reim einen solchen versteh, der auf eine betonte Silbe endet, während ich unter einem weiblichen Reim einen solchen verstehe, der auf eine unbetonte Silbe endet. „Vertand“ und „Hand“ wären demnach männliche Versenden, sie stellen also einen männlichen Kreuzreim dar, während „Herzen“ und „Zeiten“ weibliche Versenden sind, jedenfalls nach meiner Interpretation. Vielleicht setzt sich diese Neuerung ja einmal durch, denn mit ihr lässt sich erheblich leichter arbeiten, als mit der sonst üblichen."
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Trag Liebe tief im Herzen ', Das Herz in dem Verstand ", Dann hältst Du alle Zeiten ', Die Welt in Deiner Hand ". </poem>
Selbssterkenntnis (Vierzeiler)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Willst Du Dich selbst erkennen, Musst Du die Welt benennen; Willst Du die Welt verstehen, Musst Du in Dich gehen. </poem>
Zur Erklärung des Gedichtes
"Auf den Eingangssäulen des Apollo-Tempels von Delphi waren drei Sprüche eingraviert... Einer lautete: Erkenne Dich selbst.... Ein anderer lautete: Halte Maß... Diese Sprüche, die den sieben Weisen Griechenlands zugeschrieben werden, waren im alten Griechenland geflügelt Worte... Es waren okkulte Sätze, die den Menschen angeblich von den Göttern gegeben worden waren... Sie dienten einzig der Volkspädagogik... Das war ihre Aufgabe... Von all diesen Okkulten Sätzen war aber "Erkenne Dich selbst" der wichtigste... Aus heutiger Sicht scheint uns dieser Satz nicht mehr so bedeutungsvoll zu sein... Seine eigentliche Macht ist über die Jahrhunderte weitestgehend verblasst... Wir können dem alten griechischen Orakelspruch kaum noch etwas abgewinnen...
Und jetzt machen wir eine Sprung bis zu Goethe... Auch zur Zeit Goethes war der alte griechische Orakelspruch schon weitestgehend verblasst... Als Goethe nun mit dem Orakel von Delphi vertraut wurde, und zum ersten Mal von dem Spruch hörte, muss er sehr verdrießlich geworden sein, und den Spruch ziemlich unwirsch abgetan haben etwa mit den Worten: Erkenne Dich selbst? Pah! Der Mensch kennt nur sich selbst, wenn er die Welt kennt! Damit hatte Goethe dem Spruch aber praktisch den historischen Todesstoß versetzt...
Als Steiner diesen Faux pas von Goethe bemerkte, muss aber umgekehrt Steiner sehr verdrießlich geworden sein... Denn Steiner war der alte Orakelspruch immer noch heilig... Er wollte ihn am Leben erhalten und weitertransportieren.... Und Steiner war sehr ungehalten über diese Dreistigkeit Goethes... Er überlegt nun, wie er den Orakelspruch denn jetzt vielleicht doch noch retten und Goethes Dreistigkeit zumindest neutralisieren könne... Und da soll er wohl einige Zeit sehr nachdenklich geworden sein, fand dann aber eine Lösung, die fast wie eine Synthese zwischen der These (Orakelspruch) und der Antithese (Goethes Dreistigkeit) war.... Vielleicht kennt Ihr Steiners Satz... Er geht so:
Nur Welterkenntnis ist wahre Selbsterkenntnis (Goethe), und Selbsterkenntnis wird wieder zur Welterkenntnis (Orakelspruch)...
Zugegen, ein genialer Schachzug... Steiner hatte damit einen gänzlich neuen okkulten Satz erfunden und einen echten Ersatz für den alten Orakelspruch, der seine Pflicht und Schuldigkeit ja eigentlich getan hatte.. Und Steiner muss tatsächlich sehr stolz auf seinen Plot gewesen sein... Und das konnte er auch sein, denn er hat ihn der gesamten Anthroposophie praktisch genau auf den Leib geschrieben..
Und Steiner hat seinen Spruch auch ein bisschen gefeiert... In seinen Wahrspruchworten, in denen sich eine ganze Menge Prosagedichte finden, nur wenige Gedicht von Steiner sind andeutungsweise gereimt, denn Steiner wollte wohl gar nicht erst den klägliche Versuch unternehmen, es Goethe irgendwie gleichzutun, finden sich zahlreiche reimlose Vierzeiler, die diesen neuen Satz der Anthroposophie in Versform bringen, und das in immer neuen Varianten... Aus der ganzen Fülle habe ich gerade mal zwei nette Varianten herausgesucht:
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Willst du das eigne Wesen erkennen, Sieh dich in der Welt nach allen Seiten um. Willst du die Welt wahrhaft durchschauen, Blick in die Tiefen der eignen Seele. </poem>
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Willst Du Dein Selbst erkennen, Schaue hinaus in die Weltenweiten. Willst Du die Weltenweiten durchschauen, Blicke hinein in das eigene Selbst. </poem>
Beide Gedichte sind von 1924....
Als ich selbst damals die Wahrspruchworte las, war ich recht angetan nicht zuletzt von diesen Varianten... Ich konnte gut verstehen und nachvollziehen, dass Steiner seinen neuen Spruch feierte... Aber ich fragte mich, und es war bereits in einer Zeit, in der ich auch selbst angefangen hatte, Verse zu schmieden, warum er nicht wenigsten ein einziges Mal den Versuch gemacht hatte, es in ein Reimschema zu setzen... Und irgendwie muss ich da wohl den spontanen Einfall gehabt haben, es selbst einmal zu versuchen... Ich habe mich dann einfach an den Schreibtisch gesetzt, und angefangen zu probieren... Ich habe bestimmt Dutzende Versuche gemacht, und immer wieder musste ich neu ansetzen, weil sich jeder Versuch als eine Sackgasse herausstellt...Ich musst teilweise die Satzteile austauschen, damit ich die Grammatik in das richtige gegenläufige Form bekam... Aber irgendwann hatte ich dann eine Lösung, die ich Euch nicht vorenthalten möchte... Hier gleich das Gedicht... Ich schenke es der Anthroposophie... Ihr könnte es ja mal in den Zweigen an die Pinnwand hängen..." (J.St.]
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Willst Du Dich selbst erkennen, Musst Du die Welt benennen; Willst Du die Welt verstehen, Musst Du in Dich gehen. </poem>
Die Rose (Vierzeiler)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Sieh Dir nur die Rose an, Wie würdevoll sie blühen kann; Sie durftet in die Welt hinein, Und will doch nur das Herz erfreun. </poem>
Das letzte Gedicht (zum Abschluss)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Silbermond und Mondenkind, Flatterzunge, Schmetterling; Reisebilder, Höllengang, Wüstenblume, Abgesang. </poem>
Bücherehe (Epilog)
<poem style="margin-left:2em;margin-right:2em;"> Ich ging eine Ehe ein, Mit meinen Bücherwänden, Nun Zeug ich kleine Bücherlein, Sag mir, wo soll das enden. </poem>