Masematte
Masematte war eine Sprache der Arbeiter, fliegenden Händler,Gauner und Vagabunden in und um Münster bis etwa zum „Zweiten WeltkriegWP“. Sie wurde in bestimmten Milieus zusätzlich zu anderen Sprachen gesprochen. Spurenhaft lässt sich diese Sondersprache noch im heutigen gesprochenen Deutsch der Münsteraner Bevölkerung nachweisen.
Inhaltsverzeichnis
Einordnung
Als sogenannte Sondersprache diente die Masematte dazu, die wahre Bedeutung von Unterhaltungen zu verdunkeln. Masematte gehört zu den Dialekten des Rotwelschen und ist seit 1870 in schriftlichen Quellen belegt. In ihrer ursprünglichen Funktion ist sie seit der Zeit des „Zweiten WeltkriegesWP“ wegen der Verfolgung und Ermordung der Sprecher und der Zerstörung der entsprechenden Stadtviertel weitgehend verschwunden. Masematte wird sehr vereinzelt im Rahmen lokaler Traditionspflege noch immer gesprochen und hat auch den Wortschatz der örtlichen Umgangssprache geprägt.
Entstehung
Das aus dem Rotwelschen, dem Jiddischen und den Sprachen der Sinti und Roma stammende Sprachgut verschmolz mit westfälisch-niederdeutschen Elementen zu einer Sprache mit weitgehend homogenem Vokabular. Masematte wurde zum Kommunikationsmittel in den Vierteln der Arbeiter, der Armen und der Unterschichten. Masematte diente den Sprechern zur Abschirmung gegen Außenstehende bei Handel und Geschäft wie auch gegenüber Polizei und Obrigkeit, außerdem als Mittel der Integration untereinander und Ausweis der eigenen Gruppen- oder Milieuzugehörigkeit. Masematte wurde von ihren Sprechern als zweite oder dritte Sprache neben dem gängigen umgangssprachlichen Hochdeutsch und gegebenfalls dem westfälisch-niederdeutschen Platt gebraucht. Es bestand kein Bedarf, eine eigenständige Grammatik der Masematte zu entwickeln.
Name
Im Rotwelschen, der seit dem Spätmittelalter entstandenen Sondersprache des Fahrenden Volks, ist das Wort Masematte mit Varianten Massematte(n), Masemotten, Massemaite bereits seit dem 18. Jahrhundert bezeugt. Der älteste Beleg von 1750 (als Femininum Massematte) stammt aus dem Zuchthaus Sankt Georgen am See im Fürstentum Brandenburg-Bayreuth. Es geht zurück auf jiddisch masso umatan („Handel, Handelsbetrieb“, von hebräisch massa u'matan „Verhandlungen“) und nahm im Rotwelschen zusätzlich und vorrangig die Bedeutung „Diebstahl“ an (masematte-betook: gewaltsamer Einbruch, bei dem man die Bewohner des Hauses „bindet und raitelt“; zierliche Masematten: Einbruch bei schlafenden Hausbewohnern; betuchter Masematten: Diebstahl ohne Lärm).
In der Münsteraner Masematte bedeutet das Wort „Sprache“ (Masemattefreier: Sprecher dieser Sprache), es hat aber auch dort die zusätzlichen Bedeutungen „Handel, Hausiererei“ beibehalten.
Wortschatz
Masematte umfasst rund 500 Wörter, der von seinen Sprechern in Verbindung mit der ortsüblichen Umgangssprache gesprochen wurde. Der Wortschatz der Masematte ist ein Rotwelsch mit starkem Anteil von Jiddisch (Westjiddisch) und, in etwas geringerem Maße, Romanes, greift aber auch westfälisches Wortgut auf und zeigt Spuren slawischer und romanischer Einflüsse sowie bei pseudo-lateinischen Bildungen (Suffigierung mit -us) -ein möglicher Einfluss der Studentensprache.
Inhaltlich geht es vor allem um die Befriedigung von Grundbedürfnissen: Es finden sich viele Wörter aus den Bereichen Essen, Trinken und (Bei-)schlafen, aber auch für Handel, Kriminalität, Verfolgung und Obrigkeit.
Sprecher
Masematte wurde vorwiegend von Männern und eher selten von Frauen gesprochen und war in Münster hauptsächlich in vier Stadtgebieten präsent: dem Kuhviertel (u. a. Tasche, Brink, Ribbergasse), dem Sonnenstraßenviertel, Pluggendorf und „Klein-Muffi“ (Herz-Jesu-Viertel). Die Bewohner zählten zur sozialen Unterschicht und waren Arbeiter oder Hilfsarbeiter, kleine Gewerbetreibende und Händler, darunter viele Vieh- und Pferdehändler und Vertreter ambulanter Gewerbe, mit einem hohen Anteil an Juden und Roma (Sinti).
Zeit des Nationalsozialismus
Während der Zeit des Nationalsozialismus waren Sprecher der Masematte aufgrund ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft von der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik gegen „Asoziale“, Juden und Roma betroffen. Eine 1937 erschienene rassenhygienische Untersuchung, die eine aus dem westfälischen Kreis Meschede stammende „asoziale Sippe“ mit Vertretern vorwiegend ambulanter Berufe untersuchte, bezog hierbei auch Familien und Probanden aus den typischen Masematte-Quartieren in Münster mit ein und kam im Ergebnis zu der Empfehlung, dass die Angehörigen dieser „Sippe“ wegen erblicher Minderwertigkeit sterilisiert und in „frühzeitige Bewahrung“ genommen werden sollten. An Maßnahmen gegen Bewohner des Kuhviertels erinnerte sich später ein Zeitzeuge für die Jahre 1941 bis 1943, demzufolge „fast alle Bewohner der Tasche, Brink und Ribbergasse, ganze Familien verfrachtet und in Lager abtransportiert“ wurden. Als Folge der großflächigen Bombardierung Münsters und seiner Altstadt im Rahmen der alliierten Luftangriffe waren zudem mit dem Verlust der traditionellen Wohnviertel gegen Ende des Krieges auch wesentliche äußere Bedingungen für das Fortleben der Sprache verschwunden.
Entwicklung bis heute
Bis in die 1960er Jahre hielt sich Masematte noch in begrenzten Kreisen, etwa unter Bauarbeitern, als lebendige, gesprochene Sprache. Seit dem Ende des „Zweiten WeltkriegsWP“ veränderte die Sprache ihren Charakter auch insofern, als sie eine Folklorisierung durchmachte Die Wörter jovel ( = "gut", "prima"), schofel ( = "mies", "schlecht") und leeze ( = "Fahrrad") wurden zum umgangssprachlichen Allgemeingut. Humoristische Glossen in einer modernisierten Masematte erscheinen vor allem zur Karnevalszeit in den Tageszeitungen der Stadt. Das einstmals geringgeschätzte Idiom , das bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausschließlich mündlich verwandt wurde - das älteste schriftliche Zeugnis in Masematte stammt aus dem Jahr 1946 - , ist seither gesellschaftsfähig und in geringem Umfang literaturfähig geworden.
Die traditionelle Masematte in ihrer sozialen Gebundenheit gilt heute als weitgehend ausgestorben und wird nur noch durch wenige Sprecherinnen und Sprecher repräsentiert. An ihre Stelle ist eine angelernte „Sekundärmasematte“ (Siewert) getreten, die schichtübergreifend im Karneval und lokalen Journalismus sowie in studentischen und jugendsprachlichen Milieus kultiviert wird. Das hat zur Entstehung schriftlicher und literarischer Texte in Masematte geführt, wie sie für die ältere Zeit nicht belegt sind. Eine handvoll Masemattewörter ist außerdem zum Gemeinbesitz der lokalen Umgangssprache geworden.
Beispiele
- achilen: „essen“ (rotw. acheln „essen“ < jidd. achlen, auchel sein „essen“)
- Alschke, auch Alsche, Olsche: „Frau, Ehefrau, Alte“ (aus westfäl. a(o)lske „Alte“, olle „Alte“)
- Beis: „Haus“, Burkbeis: „Arbeitsamt“ (rotw. Bajis, Bajes, Bais etc. „Haus“ < jidd. bajis, bes „Haus“; zu Burk- vgl. dt. Burg, Bürger-,als Zahlwort: "zwei")
- bekan „da, hier, dabei“, bekanein: „Ok, in Ordnung“ (vgl. rotw. bekanum, bekane „hier“, aus jidd. kaan, bekaan „hier“)
- beribbeln: „bezahlen“ (vgl. rotw. Reiber „Beutel, Geldsack“, Reiberfetzer „Beutelschneider“, aus lat. raupa „Fell, Haut“)
- beschucken: „bezahlen“, Schuck „Mark (Geld)“: (aus rotw. schucken „bezahlen“ < jidd. schuck „Mark, Geldstück“)
- beseibeln: „betrügen“ (rotw. besefeln „bescheißen“, sefeln „scheißen“, Sefel „Kot“ < jidd. sewel „Kot“, vgl. dt. ugs. einseifen „betrügen“)
- bicken: „kaufen“, bikinen: „verkaufen“ (rotw. biken „kaufen“ < romani bikin- „verkaufen“)
- Bose: „Fleisch“ (rotw. Bossor „Fleisch“ < jidd. bossor „Fleisch“)
- jovel „gut“ (rotw. jofe „schön, angenehm, hübsch“ < jidd. jophe „schön“)
- Kabache: „Haus“ (norddt. Kabache „niedriges, schlechtes Haus“, vgl. rotw. Klabache „verwahrlostes Haus, schäbiges Zimmer“, Klappache „Stube“)
- Keilof: „Hund“ (rotw. Kelef, Keilef, Keilov u. a. m. „Hund“ < jidd. kelew „Hund“, plur. kelowim „Hunde“)
- kneistern: „schauen“ (rotw. kneissen „wahrnehmen, bemerken, wissen“ < bayr. geneißen „wahrnehmen“)
- Koten: „Kleine(r), Kind“, koten: „klein“ (rotw. Kotem „Kind“, koton, koten „klein, jung“ < jidd. koton „klein“)
- Laumalocher: „fauler Arbeiter“, Laumann: „Faulenzer, Betrüger“ (vgl. rotw. lau „nein, nichts“ < jidd. lo, lau „nichts, nein, ohne“)
- Lichte: „Stress“ (vgl. rotw. Licht „Polizei“, Lampe „Polizei“ < jidd. lamdon „Gelehrter, Wissender“)
- Lowi: „Geld“ (rotw. Lowo, Lowe, Lowi „Geld“ < romani lóvo „Geld“, plur. lóve)
- Lowine: „Bier“ (rotw. Lovina, Lowine, Luwina „Bier“ < romani lowina „Bier“)
- Newes: „Bauch“ (rotw. Nefesh „Seele, Leben“, Nevisch „Seele, Bauch“, von jidd. nephesch „Seele, Leben“)
- Patte: „Geldbörse“ (vgl. rotw. Patter „Leder“ oder Positi, Patist, Potissa „Tasche“ < romani potisa „Tasche“)
- pien: „Alkohol verzehren“
- Plinte: „Hose“ (vgl. rotw. Plinten „Lumpen“)
- Primangelo: „Zigarette, Zigarre“ (rotw. Bimangeri „Zigarette“ < romani pimaskeri „Zigarre“)
- Schickermann: „Betrunkener“ (rotw. schickern „trinken“ < jidd. schikkern „sich betrinken“, schikkor, schikker „Betrunkener“)
- schmusen: „erzählen“ (rotw. Schmus „Erzählung, Plauderei, Geschwätz“, schmus(s)en „erzählen“, jidd. schmuo „Gehörtes, Erzählung, Gerücht“)
- schofel, schovel: „schlecht, mies, gering, übel, niedrig“ (rotw. schofel „minderwertig, gemein, schlecht, wertlos“ < jidd. schophol, schophel „gering, niedrig, schlecht“)
- Seeger: „Mann, Kerl“ (rotw. Seeger geringschätzig „Junger Mann“, Seege „junges Mädchen“), Herkunft unsicher, eventuell von jidd. se goi „Nichtjude“, vgl. auch altenglisch secg „Mann“, „Krieger“ (secg)
- Tiftel: „Kirche“ (rotw. Tiffle „Kirche“ < jidd. tephillo „Gebet“)
Siehe auch
Literatur
- Klaus Siewert: Von achilen bis zulemann. Das große Wörterbuch der Münsterschen Masematte. Im Selbstverlag, Münster 2003, ISBN 3-00-011460-2.
- Klaus Siewert: Grundlagen und Methoden der Sondersprachenforschung. Mit einem Wörterbuch der Masematte aus Sprecherbefragungen und den schriftlichen Quellen. (= Sondersprachenforschung. 8). Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN 3-447-04770-4.
- Klaus Siewert (Hrsg.) Olf, bes, kimmel, dollar, hei ... : Handwörterbuch der Münsterschen Masematte; Münster : Waxmann Verlag 1996; ISBN 978-3-89325-159-9
- Klaus Siewert (Hrsg.) Es war einmal ein kurantes anim ...: Textbuch Masematte I; Münster: Waxmann Verlag 1990; ISBN 978-3-89325-067-7
- Klaus Siewert (Hrsg.) Und wenn sie nicht machulle sind ...: Textbuch Masematte II; Münster: Waxmann Verlag 1992; ISBN 978-3-89325-114-8
- Klaus Siewert (Hrsg.) Beinahe mulo gedellt ...: Textbuch Masematte III; Münster: Waxmann Verlag 1994; ISBN 978-3-89325-284-8
- Klaus Siewert (Hrsg.) Mit hamel hallas und helau ......: Textbuch Masematte IV; Münster: Waxmann Verlag 1998; ISBN 978-3-89325-600-6
- Klaus Siewert: Masematte. Zur Situation einer regionalen Sondersprache. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. 58, 1991, S. 44–56.
- Margret Strunge, Karl Kassenbrock: Masematte. Das Leben und die Sprache in Münsters vergessenen Vierteln. Im Selbstverlag, Münster 1980.
- Siegmund A. Wolf: Wörterbuch des Rotwelschen: Deutsche Gaunersprache. Bibliographisches Institut, Mannheim 1956. (2. durchgeseh. Auflage. 1985)
- Wolfgang Schemann: Münster - Leezen, Lowi und Lowinen: Geschichten für Masemattenfreier. Aschendorff Verlag, Münster 2016, ISBN 978-3-402-13155-8.
- Wolfgang Schemann: Münster - wie es labert, schmust und rakawelt: Ein Sprachführer für Masemattenfreier. Aschendorff Verlag, Münster 2017, ISBN 978-3-402-13226-5.
- Wolfgang Schemann: Münster - noch tofter als jovel: Ein Stadtführer für Masemattenfreier. Aschendorff Verlag, Münster 2018, ISBN 978-3-402-13076-6.
Weblinks
- tackopedia.de: Masematte-Wörterbuch online
- Klaus Siewert: Beinahe mulo gedellt--: Textbuch Masematte III Google-books
- Facebook-Seite zu Masematte unter dem Motto "Masematte lebt"
Quellen
siehe "Literatur" und "Weblinks"